Jean-Louis Florentz – «Filiations de Florentz»

Christoph Schlüren, Lyon, Januar 2016

Als ich vor knapp 18 Jahren erstmals Musik von Jean-Louis Florentz hörte – die CD-Einspielung seiner ‚Jardins d’Amènta’ – konnte ich einfach nicht glauben, dass ich von diesem Komponisten noch nie etwas gehört hatte. Vielleicht haben ihn zu diesem Zeitpunkt in Deutschland schon eine Handvoll Organisten gekannt, doch darüber hinaus war sein Name nichts als ein weißer Fleck auf der musikalischen Landkarte. Wie konnte es sein, dass ein so überwältigender Schöpfer symphonisch zusammenhängender großer Form, ein solch imaginativ überwältigender Komponist, ein derart vollendeter Meister einer Orchestration von unerschöpflichem Farbenreichtum unserer Aufmerksamkeit völlig entgangen war? Natürlich, stellte ich schnell fest, wie sollten wir Deutsche von ihm wissen, wo sein Name doch selbst in seiner französischen Heimat nur einigen wenigen Kennern geläufig war? Aber wie konnte das passieren? Wovon hat man zu viel, dass man das Beste, was man hat, nicht zu schätzen weiß?

 

Das erste, was mir beim Hören von Florentz’ Musik in den Sinn kam, war und ist bis heute: Welch eine Poesie! Jean-Louis Florentz ist ein Tondichter in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Alles ist hier Dichtung, jedoch nicht Dichtung im Sinne westlicher Gegenwartskunst seit der Aufklärung, nicht vom romantischen Sehnen der verlorenen Seele des an seinem eigenen Missbrauch gescheiterten Christentums durchdrungene Kunst, sondern Dichtkunst in ihrer ursprünglichen Form: in der Hingabe an den Urgrund des Seins, in Übereinstimmung mit den grundsätzlichen Fragestellungen der Philosophie, mit dem ‚Quo vadis?’, dem für jeden, der sich selbst zu begegnen bereit ist, sich aufdrängenden ‚Woher?’, ’Wohin?’ und ‚Warum?’ Was ist der Zweck unserer irdischen Existenz? Heute ist das vor allem eine moralische Frage, was angesichts unseres verantwortungslosen Umgangs mit dieser Welt unumgänglich erscheint. Das Problem des aufgeklärten, säkularen Menschen mit der Moral ist jedoch, dass er diese Frage theoretisch stellt und sein praktisches Handeln davon zu trennen gewohnt ist. Der Mythos erscheint ihm als märchenhafte Halluzination des Kollektivs aus einer vorgeschichtlichen Zeit, als die Menschen sich auf den Glauben beriefen, da es ihnen an Erkenntnis mangelte. Was auch ein Glaube ist, und wir müssen uns fragen, ob es sich wirklich um Erkenntnis handelt, solange wir die Freizügigkeit haben, unser Handeln von unserem Empfinden und Wissen zu entkoppeln.

Der Dichter im ursprünglichen Sinne, der Florentz als Musiker ist, ist kein Künstler in der Weise, wie wir es heute in der aufgeklärten Welt verstehen. Seine Kunst ist kein autonomes ästhetisches Angebot, das allein den Gesetzen von Geschmack und Geschick folgt, sondern eine existenzielle Angelegenheit insofern, als sie uns alle im Kern unseres Daseins betrifft: Was tun wir hier? Was ist unsere Perspektive über die Konditionierungen des Alltäglichen hinaus, jenseits der Reichweite unserer physischen, emotionalen und intellektuellen Sensoren? Was ist der verborgene Sinn des Lebens, das Mysterium hinter dem Erscheinenden? Gibt es ein inneres Paradies im Auf und Ab des Schicksals, und wie gelange ich dorthin? Das Jenseits, in banaler Betrachtung post-inquisitorischen Christentums ein Zustand nach dem Tode, falls ein moralisch einwandfreies Leben gelebt wurde – ist dieses Jenseits nicht immer da, doch die Identifikation mit der Welt der Erscheinungen lässt uns blind dafür sein? Sind Zeit und Raum, ist die Dreidimensionalität unserer Orientierung nur eine Folie auf dem Urgrund des Unvergänglichen, Zeitlosen?

Wir können die Kunst der musikalischen Formung, wie sie sich uns in Florentz’ Musik präsentiert, nicht mit logischen, also diesseitigen Maßstäben begreifen. Wir können natürlich en detail viel erklären, auf spezifische Qualitäten und Kunstgriffe hinweisen, doch der narrative Faden seiner Musik entzieht sich analytischem Zugang und letztlich auch synthetischer Begrifflichkeit. Gewiss, Florentz ist ein erfahrener Reisender mit immens weit aufgespanntem Horizont, und er ist ein großer Erzähler. Dies würde ausreichen, um uns in Fantasiewelten zu entführen, mit suggestiv mitreißenden Handlungsverläufen zu fesseln, unsere Traumebenen zu stimulieren, uns mit der ganzen Macht und Fülle der Emotionalität einzufangen. All diese Eigenschaften hat seine Musik, doch sie erschöpft sich nicht darin, sofern die ausführenden Musiker ihre Antennen auch auf das ausrichten, was sich ‚dahinter’ befindet, im Ungreifbaren.

Ein makelloses Beispiel solcher Dichtung ist Dschalaluddin Rumi, der persische Dichterfürst, dem die Kunst der Dichtung diente, um den Menschen zu sich selbst zu führen, zu seinem Ursprung, zu seiner Befreiung. Rumis ‚Mathnawi’ ist voll kleiner Geschichten, die ineinander verschlungen sind, sich assoziativ aufeinander beziehen, wechselseitig durchdringen, den Blick für immerfort Unbekanntes freigeben, ohne sich in der Welt der Erscheinungen zu verlieren. Der Dichter hält den Faden in der Hand und schöpft dabei aus dem unermesslichen Reichtum der Erscheinungen dieser Welt. Seine Wege scheinen unergründlich wie die ‚Wege des Herrn’, und alles ist ihm, dem Herrn, gewidmet, den jeder in sich selbst finden kann und der in allen Erscheinungen präsent ist. Dazu bedarf es keiner Entsagung, keines Verzichts, denn, wie Ibn Arabi sagte, „du kannst Gott nicht unmittelbar sehen, sondern in seiner Schöpfung“. Finde dich selbst, und es offenbart sich dir der Sinn dieser Welt. Das ist die Transzendenz der gegenständlichen Wirklichkeit, und in ihr liegt die Pforte zur unendlichen Wirklichkeit, zum ‚Amènta’ der alten Ägypter. Daher die Maxime der Sufis: „Stirb, bevor du stirbst!“ Oder, wie es Zarathustra in der Yasna verkündet: „…denn das ist das Geheimnis Deiner unendlichen Güte: dass in dieser Zeitlichkeit uns das Ewige erblühen kann“ (aus Yasna 43, in der deutschen Übersetzung von Paul Eberhardt: ‚Das Rufen des Zarathustra’, Jena 1913).

Transzendenz ist Befreiung, sie lässt die Bindung an den Gegenstand, die Polarität zwischen mir und dem anderen hinter mir, also auch: indem ich mich finde, muss ich mich nicht mehr definieren als Etwas, das Etwas anderem begegnet. Transzendenz kann in jedem Augenblick eintreten, sie eröffnet sich jedoch nicht, weil ich sie beabsichtige. Wenn ein Künstler seine Zuhörer auf den Weg der Transzendenz führen möchte, wenn es also einen Weg gibt, der dieses Erleben nicht dem reinen Zufall überlässt, so ist es der Pfad der Korrelation: Erlebe den Zusammenhang all dessen, was du wahrnimmst. Musikalische Begriffe wie Komposition oder Symphonie sagen denn auch nichts anderes aus, und in der heutigen Avantgarde des elitären Kunstbetriebs wären Chiffrierungen wie Dekomposition oder Dialyphonie adäquatere Entsprechungen des Stands der ‚Entwicklung’. Das Chaos der Leiden und Freuden der Welt ist die räumlich-zeitliche Folie, die wir sehen, hören und empfinden können. Auf der rationalen Ebene wird diese Welt von der Kausalität des Erscheinenden zusammengehalten, und die Erfahrung des kausalen Bezugs, also Korrelation der Erscheinungen, erfordert, dass wir uns nicht in den einzelnen Erscheinungen verlieren. Erfahren wir den Bezug in seiner Gesamtheit, also als Einheit des Erlebten vom ersten bis zum letzten Moment, so ist es uns möglich, diese Erfahrung zu transzendieren, indem wir eins mit ihr werden, da wir selbst eins sind und eins mit der Welt. Die Trennung ist aufgehoben. Das ist die spirituelle Urerfahrung, aus der die Kulte, Lehren und Bräuche der Religionen hervorgegangen sind. Die Musik kann uns, wie auch die Dichtkunst oder jede andere Kunst, diese Erfahrung auf unmittelbarem Weg schenken, wenn sie auf Transzendenz ausgerichtet ist. Und aufgrund der uninterpretablen, wesensgegebenen Eigenschaften der Intervalle (also Melodik und Harmonik) und der Rhythmik kann die Musik dies unverstellter, da in einer nicht gegenständlich assoziativ gebundenen Weise, als jede andere Kunst. Dafür muss sie auf nichts verzichten, sondern kann die ganze Fülle des Lebens umfassen, denn, so eine andere sufische Maxime: „Wir sind in der Welt, doch nicht von der Welt.“ Oder, um das Nachtgebet der mittelalterlichen Mönche zu zitieren: „Media vita in morte sumus.“ Verstehen wir das heute ohne unwillkürlich tragische Konnotation? Wer das Leben und den Tod liebt, wie Mozart, braucht keinen Trost, denn die erlebte Gewissheit der inneren Einheit ist Befreiung.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass viele Lehrschriften des Orients in erzählerisch verschlungener Form überliefert sind, so auch die Märchen aus Tausenundeiner Nacht oder, vom türkischen Derwisch Mokles, aus Tausendundein Tag, wie beispielsweise die Geschichte von Turandot. Selbst ein moderner Sufi wie Idries Shah hat viele seiner Bücher in solch allegorisch verwobener Form verfasst. Oder denken wir an Gurdjieffs ‚Beelzebubs Erzählungen’. Und auch die Legendenkultur Afrikas, des fernen Ostens oder des präkolumbischen Amerika ist weit mehr als Opium für die Sinne. Warum sollte ein Komponist nicht ebenso verfahren können, hat er sich erst einmal innerlich von den Konventionen des ihn umgebenden Kulturbetriebs befreit?

Dieser Zugang findet seinen symbolischen Niederschlag im ‚Cire et Or’-Prinzip, der ‚Wachs und Gold’-Poesie, einem alchimistischen Prozess der Rückführung der Materie auf ihre geistige Grundlage, die im bereits in alter Sanskrit-Überlieferung vorgeprägten, symbolhaft in Stufen dargestellten Prozess der Entwicklung zu einem umfassenderen Bewusstsein in der Sufi-Tradition ihre Entsprechung hat. Und es ist bekannt, dass sich Florentz auf die verwandelnde Kraft des ‚Cire et Or’ berief. Den reinsten Ausdruck in der Kunst findet diese Ausrichtung im Lobpreis Gottes und seiner Schöpfung, bei Florentz in der Beschwörung der Gewalt und Schönheit der wilden Natur, des Dschungels und der Wüste, der Berge und des Meeres – in einem musikalischen Kosmos, der in seiner prallen Lebensfülle und organischen Irregularität so ganz anders vibriert als die moderne Beschwörung des Großstadt-Dschungels mit seiner maschinenhaft mechanischen, atemlosen Dynamik, wie sie für die amerikanischen Minimalisten wie Steve Reich (z. B. ‚City Life’) so charakteristisch ist. Auch wenn bei Florentz eine Bewegung scheinbar minimalistisch ansetzt wie in den ‚Colonnes de corail’ in ‚L’anneau de Salomon’, so ist sie doch von vornherein von pulsierendem Leben erfüllt, und schnell tritt ihre organisch aus sich selbst heraus wachsende Gestalt klar zutage.

 

Die Form in der Musik von Florentz ist nicht nach vorgegebenen Schemata gebaut, nicht aufgrund struktureller Leitlinien entworfen, sondern ergibt sich intuitiv von selbst. Insofern ist es nicht der Komponist, der komponiert, sondern die der Musik innewohnenden expressiven Kräfte formieren sich ‚von selbst’, und der Komponist wacht über den Prozess. Es ist aber auch nicht ein ‚L’art pour l’art’-Prinzip wie bei Debussy, wo oft die passenden Titel, Bildunterschriften gleich, erst gefunden wurden, nachdem die Musik da war. Die Episoden erscheinen vor dem Auge des Betrachters, in seiner Imagination, inspiriert aus einem realen erzählerischen Strom, und verbinden sich nun auf organische Weise zu einem Ganzen, das zugleich energetisch geschlossen und in der visionären Kraft, stets dem Unbekannten zu begegnen, offen ist. Themen, Motive und harmonische Progressionen kehren in klar erkennbarer Gestalt wieder, bestimmen in ihrer Entfaltung Entwicklungen und markieren zentrale Formabschnitte wie beispielsweise die erregte Anfangsfigur der Piccoloflöte in ‚L’anneau de Salomon’, doch erfahren sie vielfach subtile Verwandlungen, erfüllen höchst unterschiedliche dramaturgische Funktionen und verändern sich in wechselseitiger Durchdringung.

 

Das Offene und Spontane ist eine Qualität, die der westlichen klassischen Musik weitgehend verloren gegangen ist und in den Kreisen der etablierten Avantgarde auf eine künstliche Weise wieder zum Einsatz kam, indem absichtlich dem Zufall ein Platz eingeräumt wurde. Bei Florentz herrscht kein Zufall, sondern die Gegenwärtigkeit des Miteinander und Ineinander. Er hat die oralen Traditionen Afrikas und des Nahen Ostens studiert und gelehrt. Der Vorteil der oralen Überlieferung ist nicht nur ihre vom konkreten Material unabhängige Lebendigkeit, sondern ganz besonders auch die Überlieferung ihrer energetischen Ursprünglichkeit. Die schriftliche Fixierung hält zwar die Buchstaben fest, doch den Sinn, die Phrasierung, kann sie nicht bewahren. Auf diese Weise wird einem technischen Fortschritt Vorschub geleistet, der sich vom Menschen in seiner Ganzheit entfernt, um seiner selbst willen ausgelebt wird und entsprechend nur noch Menschen erreicht, die zu Fachspezialisten geworden sind.

Florentz gehört zu einer Generation, die diese einseitige Zuspitzung in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg in besonderer Weise spürte. Ein Weg, aus der materialistischen Isolation herauszukommen, schien, eine neue Weltmusik zu schaffen, eine Fusion unterschiedlichster Überlieferungen zu einem neuen Ganzen. Diese Vision, von der in ganz anderer Weise auch der deutsche Florentz-Zeitgenosse Peter Michael Hamel beseelt ist, oder der 2008 verstorbene Finne Pehr Henrik Nordgren, haben freilich auch andere vorher schon verfolgt, und als Pionier darf bereits kurz nach der Jahrhundertwende der Brite John Foulds (1880-1939) gelten, der tragende Elemente indischer Musik mit westlichen modernen Errungenschaften zu unvorhersagbar Neuem verschmolz. Foulds, ein Originalgenie, das erst heute entdeckt wird, wurde seinerzeit vom englischem Establishment unterdrückt und konnte insofern keine Nachfolger finden.

Während sich Peter Michael Hamel Indien, Tibet und Zentralasien zuwandte, war es bei Nordgren eine vollkommen unorthodoxe Verbindung finnischer, russischer und japanischer Elemente, die in eine oftmals alptraumhaft delirierende, dunkel chromatisch oszillierende Klangwelt einflossen. Für Jean-Louis Florentz war der gelobte Kontinent Afrika. Als grundsätzlich lebensbejahender, sinnenfreudiger, die archaische Welt umarmender Mensch fand er dort die besten Voraussetzungen vor, um seine Perspektive zu erweitern und auch dem vitalen Bedürfnis Rechnung zu tragen.

Natürlich ist Florentz ein westlich ausgebildeter Komponist, der über die gesamte Palette der Ausdrucksmittel unserer Musiktradition und ihrer zeitgenössischen Erweiterungen verfügte. Doch diese interessierten ihn immer weniger als Selbstzweck. Jedes klangliche Mittel und jede Klangverbindung wird dadurch legitimiert, ob sie dem Zusammenhang dient. Für sich selbst, also ohne dem Zusammenhang zu dienen, mag sie zwar eine technische Legitimation haben, also zu Forschungszwecken geeignet sein, jedoch keine künstlerische. Insofern ist es bei aller Könnerschaft nicht das Technische und auch nicht das Sinnliche, wodurch sich Florentz, der ein brillanter Techniker wie wenige andere war, wesentlich abhebt, sondern der Geist seines Schaffens.

 

Wenn wir die tragenden musikalischen Einflusssphären, die in Florentz’ Musik ihren Niederschlag fanden, untersuchen, geben sich Wurzeln unterschiedlichster Provenienz zu erkennen, die er zu einem vollkommen neuartigen, einmaligen Ganzen verschmolz.

1) Die europäische Kunst der organisch abgeleiteten, in klarer, zugleich allem Schematischen sich entziehender Proportionierung schwingenden symphonischen Formung, die in seinem Fall besonders auf die schweifende Phantastik und elastische Freiheit Debussys zurückweist. Da dies eine Erörterung aus deutscher Perspektive ist, sei eingeworfen, dass viele Hörer hier bei der ersten Begegnung mit seiner Musik durchaus so etwas wie eine Wiedergeburt des Impressionismus empfinden, eine unerwartete Fortführung dessen, was wir mit der singulären Erscheinung Debussys verbinden. Auch sind natürlich die Verbindungslinien zu Henri Dutilleux und Maurice Ohana, die er als seine geistigen Väter benannte, zu erkennen. Dutilleux in seiner lyrischen Ausprägung, wie sie vielleicht am schönsten in der freischwingenden Modalität seines Cellokonzerts ‚Tout un monde lointain’ zum Ausdruck kam; und Ohana im rituellen Aspekt, auch in der experimentellen Haltung, die vor allem auf die drei frühen Orchesterwerke von Florentz ausgestrahlt haben dürfte, die er später zurückzog.

2) Der afrikanische Wechselgesang mit seiner vitalen rhythmischen Grundierung, der magnetische Zusammenschluss zentrifugaler Kräfte, der Florentz’ Orchesterwerke oftmals wie Musik ‚auf dem fliegenden Teppich’ daherkommen lässt – schwerelos in all ihrer luxuriösen Klangpracht; mit seiner ‚Multiphonie’ (im Gegensatz zur wohlgeordneten kontrapunktischen Polyphonie wie auch zur choralhaften Homophonie der westlichen klassischen Musik), die jederzeit in Heterophonie umschlagen und zerfasern kann; mit seiner physischen Haptik und seinem unwiderstehlichen Groove – eine Musik, die wir vor allem aus den amerikanischen Populärmischformen des Blues, Reggae oder Gospel wiedererkennen. Auch das Wilde, Verwegene, Schrille, Verrückte ist hier in authentischer Weise den Ostinato-Figuren einverwoben.

3) Die modalen Skalen des Nahen Ostens und Nordafrikas mit ihrer zentrierenden, erdenden, überwiegend introvertiert ausgerichteten Kontinuität des Ausdrucks und feinen melodischen Empfindsamkeit bis in den mikrotonalen Bereich hinein, den Florentz’ ausdrücklich nicht als Vierteltönigkeit begriffen haben will.

4) Die Herkunft von der Orgel mit ihrem Registrierungsreichtum und der klaren Ordnung der voneinander geschiedenen und sich gezielt vermischenden Farben und Intervallkopplungen. Dabei hat Florentz sich gerade in seiner Orgelmusik wie kein anderer von der mächtigen französischen Orgeltradition emanzipiert und in seinen drei großen Werken und dem Präludium zu seinem unvollendeten letzten Zyklus eine völlig neue Ausdruckswelt geschaffen, die in ihrer schillernden Lebendigkeit ihresgleichen nicht hat. Doch in seiner Orchestration ist, sozusagen aus maximaler Entfernung eine Parallele zu Anton Bruckner bildend, das Prinzip der Registertrennung, der ausgeprägten Arbeit mit der Identität der einzelnen Gruppen im Dienste der symphonischen Dramaturgie, formbildend eingesetzt. Die Macht der resultierenden Gegensätze ist enorm, wie auch die Strahlkraft sowohl der einzelnen Gruppen als auch des orchestralen Tutti. Und auch die Transkription von Orchestermusik für die Orgel kann ausgezeichnet funktionieren, wie das vorzügliche Arrangement Henri-Franck Beaupérins von ‚L’anneau de Salomon’ bezeugt.

5) So etwas wie ein quasi urchristlich inspiriertes Verständnis der katholischen liturgischen Musik. Hier fand Florentz in Maurice Duruflé einen Geistesverwandten, dessen Requiem er liebte und das ihn vor seinem eigenen Tod begleitete. Er drückte sein Bedauern darüber aus, dass den katholischen Gemeinden der Bezug zum liturgischen Gesang und damit die kollektive Lebendigkeit des Kultus verloren gegangen ist, im Gegensatz zur islamischen Glaubenspraxis, und fand die ursprünglichste Form der kultischen Ausübung christlichen Glaubens in der äthiopischen Liturgie, die er in der Jerusalemer äthiopischen Gemeinde studierte.

 

Florentz’ Œuvre ist schmal, ähnlich schmal wie das von Henri Dutilleux. Er hat stets lange Zeit mit der Vorarbeit, der Ausarbeitung und der Nachbereitung verbracht. Die Vorarbeit bestand zu einem großen Teil aus den Erfahrungen seiner Reisen. Seine Verehrung für die Jungfrau Maria, der er in dem gigantischen Triptychon ‚Livre du pacte des miséricordes’ huldigte, kann als symbolisch für seine Schöpfertätigkeit verstanden werden. Der unschuldigen Empfängnis folgt eine lange Phase der Schwangerschaft, des Wachsens, und der Erziehung, des Ausreifens. Die Reinheit seiner Musik hat nichts zu tun mit dem Purismus irgendwelcher modernistischen Ästhetik, worin er sich deutlich von seinem Lehrer Messiaen unterscheidet, und natürlich besonders offenkundig von den Kreisen um Pierre Boulez, dem Imperator der Neue-Musik-Szene in Paris, dessen Name in Zusammenhang mit dem seinen nicht auftaucht. Die Reinheit von Florentz’ Musik ist ihre innere Freiheit, ihre Schrankenlosigkeit, ihre Durchlässigkeit, die den unerschöpflichen Reichtum des Lebens mit offenen Armen einlädt.

Wo solche Gegensätze innerhalb eines Werkes in unmittelbaren Kontakt geraten, solche unterschiedlichen Komplexitäten und Gestaltungsprinzipien wie beispielsweise in den großen einsätzigen Orchesterwerken ‚Les jardins d’Amènta’ oder ‚L’anneau de Salomon’, ist die Fähigkeit des Verbindens, der Balance umso bedeutender. Und hier zeigt sich Florentz als ein Meister der Übergänge ohnegleichen. Wie er es beispielsweise in organischster Weise versteht, die pentatonische Melodik des Mittelteils seines ‚Second Chant de Nyandarua’ für 12 Celli mit den chromatischer organisierten Modi der Umgebung bruchlos zu verbinden, auf die natürlichste Art einfach das Idiom zu wechseln und den Hörer ohne einen Moment des Stockens darüber hinweg zu tragen, zeugt von höchster Kunst subtiler Verwebung. Nicht anders verhält es sich mit den zahlreichen Übergängen zwischen den einzelnen Stationen und wechselnden Aggregatzuständen in ‚Les jardins d’Amènta’, seinem formal komplex verschlungensten, oder ‚L’anneau de Salomon’, seinem als Ganzem vielleicht bezwingendsten symphonischen Werk großen Formats.

 

Die Unabhängigkeit Florentz’ von den geschäftlichen Mechanismen der Musikwelt findet unmissverständlichen Ausdruck in der Wahl seiner Besetzungen. Fast sein gesamtes Œuvre besteht aus Orchesterwerken, teilweise mit Chor und auch Solisten, aus Orgelwerken und Cellomusik in unterschiedlicher Besetzung vom Solo bis zum Duodezett. Daneben findet sich an Umfangreicherem nur Asmarâ für Chor a cappella, an Kleinigkeiten außerdem eine Vocalise für mittlere Stimme und ein Stück für Horn solo, beides wundervolle Manifestationen modaler Konstruktion (ein weiteres einstimmiges Solostück vergleichbaren Charakters findet sich in den ‚Laudes’ für Orgel; diese drei Monodien sind zwar mit dem für sie bestimmten Idiom in vollkommenem Einklang, können jedoch auch auf einem beliebigen anderen Instrument mit nicht weniger authentischer Wirkung wiedergegeben werden). Wir suchen in Florentz’ Schaffen vergeblich nach Klaviermusik, nach Violinwerken, einem Streichquartett, Bläsermusiken, einer Oper oder überhaupt jeglicher Form von Bühnen- oder Filmmusik. Weder hat ihn je der kommerzielle Aspekt der Musik interessiert noch der spektakuläre, und dies, obwohl er Puccini liebte – ich vermute, dass es die pralle Sinnlichkeit, vollendete Kantabilität und natürliche Dramatik war, die ihn hier so anzogen, und natürlich auch der Zauber der Orchestrationskunst.

 

Für die ausführenden Musiker ist es bei Florentz’ Musik von besonderer Bedeutung, dass sie sich mit den archaischen Charakteren vertraut machen, die seiner stilistischen Fusion zugrunde liegen. Das gilt natürlich für die gesamte Tradition der westlichen klassischen Musik, doch hier, wo einander in ihrem Ursprung besonders fremdartige Ausdruckssphären verschmolzen werden, ist es in außergewöhnlichem Ausmaß erforderlich: ein zumindest hörendes Studium indigener afrikanischer Musik, die noch nicht von westlichen Populärelementen nivelliert ist, hat Priorität – ansonsten wird sich der rhythmische Groove, der mit einer nicht maschinellen, sondern in subtilster Weise elastischen Exaktheit zu tun hat, nicht einstellen, und die instrumentalen Melodien sind auf ihren vokalen Grundausdruck zurückzuführen, in einer Weise, dass das Instrument singt, dass der Klang geformt wird, als seien die natürliche stimmliche Intensität der Tonhöhenunterschiede, als seien Kehlkopf, Lippen und Zunge beteiligt, wie wir dies beispielweise von indischen Sarangi-Spielern kennen. Auch wäre zu wünschen, dass junge Musiker in arabischer, türkischer, persischer oder zentralasiatischer Improvisationskunst unterwiesen werden und erlernen, die melodische Spannung auch ohne harmonische Sensationen in langgezogenen Bögen zu halten, keine Redundanzen zuzulassen, die Melodie unabhängig von Taktschwerpunkten zu artikulieren und atmen zu lassen. Dies ist vor allem in den Monodien und Cellowerken Florentz’ von zentraler Bedeutung, oder auch im abschließenden ‚Vieillard nubien’ in ‚L’anneau de Salomon’.

 

Die Entwicklung innerhalb seines Œuvres führte Florentz von der teilweise mikrostrukturell wuchernden Komplexität früher Partituren wie ‚Tindé’, ‚Ténéré’ oder ‚Marches du soleil’, in welchen er vielen Anhängern der kosmopolitischen Avantgarde als neuer Hoffnungsträger erschien, zu der staunenswerten Einfachheit seiner vorletzten Orchesterschöpfung ‚L’enfant des îles’, deren erster Satz mit einer wohlklingenden, in sich ruhenden Entspanntheit umfängt, die in dieser Qualität in neuerer Orchestermusik einmalig ist. Denn auch hier wird die Musik niemals statisch, sie bewegt sich nur äußerst langsam. Charakteristisch sind bei Florentz immer wieder die Pedalwirkungen in hoher Lage, wo dann die Kraft der Bewegung umso wirkungsvoller aus den tiefen Registern wie eine Naturgewalt aufsteigt. Die Streicher behandelt er gerne wie ein einziges großes Instrument, das sich in unendlich facettenreich schillernder Klangpracht wie ein Pfauenrad auffächern darf. Die Blasinstrumente sind vorwiegend gemäß ihrer natürlichen Stärken eingesetzt, also das Brillante, Dominante, Zackige und Schmetternde der Trompeten, das Sangliche der Klarinetten und Hörner, das silbrig Schimmernde, auch fahl Gespenstische der Flöten, die untergründige Macht und die gewaltigen Glissandi der Posaunen usw. Auf seinen Exkursionen hat Florentz viele exotische Vogelgesänge aufgenommen, wie er auch unzählige herrliche Fotos von Landschaften und Zeremonien gemacht hat. Doch unterscheidet sich seine Verwendung von Vogelmelodien grundsätzlich von der exotisierend katalogisierenden Haltung Olivier Messiaens. Bei Florentz sind die Vogelstimmenimitate untrennbar dem musikalischen Fluss und dem jeweiligen Instrumentalidiom eingeschmolzen, und sein letztes Werk, die Tondichtung ‚Qsar Ghilâne’, ist ebenso eine Übertragung der Vogelwelt in die Welt der musikalischen Formung wie Fariduddin Attars ‚Vogelgespräche’ mit ihren sieben Tälern die Stufen der Bewusstwerdung des menschlichen Geistes symbolisieren.

 

Für die Propagandisten des linearen Fortschritts ist Jean-Louis Florentz in seiner mythisch weltumspannenden Offenheit und organischen Fusion archaischer und avancierter Mittel ein aus der Zeit Gefallener. Ignorante Kritiker sprechen abfällig über „Filmmusik“, da sie nur die illustrative Außenseite wahrnehmen. In der Tat ist seine Kunst zeitlos, und das wird auch zur Folge haben, dass sie die Zeit überdauert. Alle Musiker, die ich mit seiner Musik bekanntmachte, sind begeistert und können überhaupt nicht verstehen, wie so ein überragender Meister so unbekannt sein kann. Ihre Wirkung auf das Publikum wird diese Musik nicht verfehlen. Wir halten Jean-Louis Florentz für den großartigsten französischen Komponisten der Jahrtausendwende. Seine Zeit wird kommen.